Eines Tages hatte Julie die Idee, sich einen Grashalm ins Ohr zu stecken, ihn ein bisschen hin und her zu ruckeln, damit er auch richtig sitzt, und dann weiter ihren Geschäften nachzugehen – immer mit dem Halm im Ohr. Wie die Schimpansin, die in einem Schutzgebiet in Sambia lebt, auf diese Idee kam – man weiß es nicht. Offensichtlich war aber, dass die anderen Affen in Julies Gruppe die Idee gut fanden. Nach einem Jahr liefen acht der zwölf Gruppenmitglieder mit einem Grashalm im Ohr herum. Andere Schimpansen im selben Reservat kannten diese Mode dagegen nicht. Solche Beobachtungen, bei denen verschiedene Populationen derselben Art ganz unterschiedliche Verhaltensweisen pflegen, sind für Biologen viel mehr als nur Anekdoten: Sie sind der Beleg, dass nicht nur Menschen, sondern auch viele Tiere eine Kultur haben.
Verhaltensbiologie: Rotierend ans Ziel von der Schildkröte bis zum Pinguin: Viele Meeresbewohner schwimmen im Kreis. Biologen suchen nach Erklärungen. Zwar gehen Tiere weder ins Theater, noch spielen sie Klavier oder lesen Bücher – Tätigkeiten, die man beim Menschen mit Kultur verbindet. Doch wenn man den Begriff weiter fasst, bedeutet Kultur, dass Mitglieder einer Gemeinschaft bestimmte Gewohnheiten pflegen, die sie von Artgenossen unterscheiden und die sie untereinander weitergeben, indem einer den anderen nachahmt. “Kultur ist alles Glauben, Wissen, Können, das sozial tradiert, also nicht angeboren oder selbst erlernt ist”, sagt der evolutionäre Anthropologe Carel van Schaik.
Im Wissenschaftsjournal Science hat der Psychologe Andrew Whiten von der britischen University of St Andrews zusammengefasst, was über Kultur bei Tieren bekannt ist. “Lange hat man gedacht, dass sie etwas typisch Menschliches ist”, schreibt er. Doch in den vergangenen 70 Jahren habe sich herausgestellt, dass Kultur überall in der Natur verbreitet sei. Und zwar nicht nur bei Menschenaffen, Rabenvögeln und Walen, jenen Tieren also, die als besonders intelligent gelten, sondern sogar bei Insekten wie etwa Fruchtfliegen. Jede Population Buckelwale komponiert ihre eigenen Lieder.
Einer der ersten Hinweise, dass auch Tiere Kultur haben können, kam in den 1920er-Jahren aus England. Einige Meisen waren dort auf die Idee gekommen, Löcher in die Deckel von Milchflaschen vor den Häusern der Menschen zu picken und den Rahm zu trinken, der sich darunter angesammelt hatte. Zehn Jahre später hatten sich Meisen in ganz England dieses Verhalten abgeschaut, Milchflaschen waren fast nirgendwo mehr sicher. In den 1950er-Jahren beobachteten Biologen japanische Makaken, die eine Kultur des Kartoffelwaschens entwickelt hatten. Ein Weibchen fing damals damit an, Süßkartoffeln in einem Fluss zu reinigen, bevor es sie aß. Zuerst folgte seine Mutter dem Beispiel, drei Jahre später wuschen 40 Prozent der Affen aus der Gruppe die Kartoffeln ab.
Seitdem sind unzählige Beobachtungen hinzugekommen, die kulturelle Unterschiede auch bei vielen anderen Tierarten belegen. Buckelwale an der Ostküste Australiens beispielsweise singen anders als Buckelwale, die an der Westküste leben. Jede Population komponiert ihre eigenen Lieblingslieder. Alle Männchen einer Population blubbern beispielsweise denselben Paarungshit – aber nur eine Saison lang. Im Jahr darauf singen die Wale ein neues Lied, das aber auf dem alten basiert. Sie stellen Strophen um, dichten an verschiedenen Stellen etwas hinzu oder lassen etwas weg. Steht das neue Repertoire, singen wieder alle Gruppenmitglieder gleich. In den meisten Fällen tierischer Kultur handelt es sich um eine einzige Verhaltensweise, die Gruppenmitglieder untereinander weitergeben, sodass sich eine Tradition herausbildet.
Menschliche Kulturen sind aber viel komplexer und unterscheiden sich nicht nur in einer, sondern in vielen verschiedenen Gewohnheiten auf den verschiedensten Gebieten: etwa der Ernährungsweise oder der sozialen Normen. Gibt es so etwas bei Tieren auch? Fündig wurden Biologen wieder einmal bei Schimpansen. Schon vor einiger Zeit verglich Andrew Whiten mit seinem Team das Verhaltensrepertoire von sieben Gruppen und kam auf 39 verschiedene Traditionen. Unter anderem knacken Schimpansen in der Elfenbeinküste Nüsse mit Hammer und Amboss aus natürlichen Materialien. Tieren in Tansania ist das noch nicht eingefallen, obwohl es auch dort sowohl Nüsse als auch geeignetes Werkzeug gäbe.
Schimpansen mit einer besonderen Esskultur haben Verhaltensforscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und der Universität Warschau in der Demokratischen Republik Kongo entdeckt. Je nachdem, was sie essen wollen, benutzen diese Affen unterschiedliches “Besteck”. Lange filigrane Stöcke beispielsweise, um eine bestimmte Ameisenart zu sammeln, kurze dicke Stecken dagegen, um Honig aus Bienennestern in Baumhöhlen zu stehlen. Auch die Schlafkultur dieser Tiere unterscheidet sich von der anderer Schimpansen: Statt ihre Schlafnester auf Bäumen zu bauen, machen sie es sich auf dem Boden gemütlich. Auch Orang-Utans und Weißschulter-Kapuzineraffen zeichnen sich durch großen Kulturreichtum aus. “Bei Menschenaffen hat man mittlerweile Hunderte von Verhaltensweisen gefunden, die kulturell tradiert sind”, sagt van Schaik.
Die Beispiele aus der Tierwelt zeigen, dass “menschliche Kultur nicht plötzlich aus dem Nichts heraus entstanden ist” Um Kultur im Tierreich zu erforschen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die aufwendigste ist, die Verhaltensweisen verschiedener Populationen derselben Art zu beobachten und zu vergleichen. Das Kulturprofil der Schimpansengruppe im Kongo zu erstellen, hat beispielsweise zwölf Jahre gedauert. Eine andere Möglichkeit ist, Tiere in Gefangenschaft zu trainieren, sie mit wilden Artgenossen in Kontakt zu bringen und dann zu beobachten, ob und wie sich das antrainierte Verhalten ausbreitet. In einem dieser Experimente schauten sich wilde Kohlmeisen in Windeseile das Verhalten eines zahmen Artgenossen ab, der gelernt hatte, ein Futterhaustürchen stets in eine bestimmte Richtung aufzuschieben, um an den Inhalt zu kommen.
Unter anderem mit Experimenten im Labor hat man herausgefunden, dass nicht nur Wirbeltiere Kultur im weitesten Sinne haben, sondern beispielsweise auch Insekten. In einem dieser Experimente beobachten weibliche Fruchtfliegen, wie sich ein mit einem grünen Punkt markiertes Männchen mit einem anderen Weibchen paart. Anscheinend lernen sie dabei, dass der grüne Punkt irgendeinen Vorzug signalisiert, denn später paaren sich die Zeuginnen selbst am liebsten mit Männchen, die einen grünen Punkt auf dem Rücken haben. Das alles zeige, “dass menschliche Kultur nicht plötzlich aus dem Nichts heraus entstanden ist”, schreibt Andrew Whiten in Science. “Sondern dass die Voraussetzungen dafür schon früh im Lauf der Evolution entstanden sind.”
Es ist klar, wo wir herkommen, sagt auch van Schaik. Doch einer der entscheidenden Unterschiede zum Tier sei, dass Menschen ihr kulturelles Wissen aktiv weitergeben und andere darin unterrichten. Von Generation zu Generation entwickelt sich die menschliche Kultur dadurch weiter. Evolutionäre Anthropologen sprechen von “kultureller Evolution”. Innovationen, in welchem Bereich auch immer, können dadurch nicht nur weitergegeben, sondern auch verbessert werden. Ansätze kultureller Evolution gibt es auch bei manchen Tieren. Dass Schimpansen mit Stöckchen nach Termiten angeln, hat Jane Goodall schon in den 1960er-Jahren beobachtet. Mittlerweile weiß man, dass manche Tiere diese Technik verfeinert haben und das Ende des Stocks ankauen, sodass eine Art Pinsel entsteht, an dem die Termiten besser hängen bleiben. Einige Schimpansen sind bereits noch einen Schritt weiter und fangen unterirdisch lebende Termiten, indem sie zuerst mit einem dicken Stock Löcher in die Erde bohren. Dann wechseln sie das Werkzeug, nehmen einen Pinselstecken und holen damit die Termiten aus dem Bau. Ziemlich schlau und anders als Julies Grashalm-im-Ohr-Mode auch noch sehr nützlich. Aber wer sagt eigentlich, dass Kultur immer einen Zweck erfüllen muss?